Das Plakat - Mitteilungen des Vereins der Plakatfreunde erschien von 1910 bis 1921. Herausgeber war der bedeutende Plakat-Sammler Hans Sachs. Die Zeitschrift wurde bei einer maximalen Auflage von ca. 10.000 Exemplaren im Sommer 1921 national und international beachtet. Der vorliegende Text stammt aus dem Heft Nummer 6, 5. Jahrgang, November 1914, Seite 236 bis 246. Die meisten Abbildungen fehlen, die übrigen sind verlinkt. Dr. Herbert Tannenbaum, geboren am 07. März 1892 in Manheim - gestorben am 30. September 1958 bei einem Besuch in Frankfurt am Main, war Kunsthändler und gilt als einer der ersten deutschen Filmtheoretiker, die sich publizistisch intensiv mit der Filmkunst auseinander gesetzt haben. (Weblinks siehe unten) |
In der gegenwärtigen Zeit hat die Entwicklung des Kinematographen zum Unterhaltungsinstrument, eine Entwicklung die seit etwa sechs Jahren mit einer unerhörten Schnelligkeit und Intensität vor sich ging, einen Höhepunkt und damit einen gewissen (nur vorläufigen) Abschluss erreicht. Von allem Anfang an wurde die eigenartige Erfindung nicht so sehr zu wissenschaftlichen Zwecken, als vielmehr zur Unterhaltung der breiten Masse des Volkes ausgebeutet. Mit der Schaubude, die auf Messen und Märkten umherzog, und vor der ein starkstimmiger Ausrufer auf die sehenswerten Darbietungen hinwies, fing es an. Diese Art von Reklame genügte vollauf: auch ohne sie wären diese Stätten eines ungewohnten Vergnügens, wo sie erschienen, überfüllt gewesen.
Schon damals war es das Kinostück, das die Massen so gewaltig anzog, also das von Schauspielern „gestellte“ Spiel, das, anfangs in wenigen Minuten, späterhin im Verlauf von drei und mehr Akten, die Zuschauer belustigte oder rührte, wie eben die Reihenfolge eines bunt zusammengewürfelten Programms es wollte. Neben diesem Kinodrama führte damals – und heute noch – die Naturaufnahme und der aktuelle Film, der Tagesereignisse aus aller Herren Länder zeigte, ein gern geduldetes, aber bescheidenes Dasein.
Das Kinostück brachte eine ganz neue, eigenartige dramatische Ausdrucksmöglichkeit, die aber bei aller Neuheit ihre Wurzeln hat in der Urzeit theatralischer Darstellung, in jenem Boden, dem die Pantomime als die ursprünglichste Form aller Theatralik entwuchs.
Das Kinodrama ist das Drama ohne Worte, das Drama
der reinen Sichtbarkeit. Es ist dem Kinostück versagt, in Dialogen oder Monologen von den Menschen und Dingen dieser Welt, von ihrer Wesensart und ihren Problemen zu erzählen; dazu bedürfte es des abstrakten Wortes. Im Kino wissen und erkennen wir dagegen nur das, was wir sehen.
Damit es aber überhaupt etwas zu sehen gibt, müssen im Filmbild ständig Veränderungen im Raume vor sich gehen; das heisst, nur die rein optisch fassbare Handlung kann den Zuschauer interessieren und fesseln. Diese Notwendigkeit, ununterbrochen räumliche, handlungsfördernde Veränderungen vorgehen lassen zu müssen, bedingt es, dass die Geschehnisse und Vorgänge im Lichtbild Schlag auf Schlag erfolgen.
So erscheint ein Filmgeschehnis in seiner Konzentriertheit wie der Extrakt einer dramatischen Handlung, die im Film auf die letzte knapp zusammenfassende Formel gebracht ist. Diese Zusammenfassung ergibt eine gewisse groteske Steigerung und Uebertreibung des Vorgangs im Ganzen, wie der schauspielerischen Darstellung der einzelnen Menschen. Daher trägt das Filmstück einen primitiven, grotesken, grellen, aber in einem bestimmten Sinne monumentalen Charakter an sich.
Man kann nach all dem behaupten, dass der Kino seinem Wesen nach eine innere Verwandtschaft mit dem Plakat besitzt, dessen Aufgabe es auch ist, in aller Konzentriertheit mit Hilfe einer grotesken Steigerung der dargestellten Objekte ein primitives, formelhaftes, buntes Bild von der Art und der Beschaffenheit irgend eines Dinges zu geben. Kino und Plakat sind aus dem Geist unserer Zeit heraus geworden, die in ihrer Hast und Arbeitsamkeit mit kräftigen Mitteln angepackt sein will, deren Menschen am meisten und am raschesten durch den Sehsinn erfassen, und die mit Vorliebe all das annehmen, was sich knapp, formelhaft und bunt darbietet.
Kino und Plakat haben sich denn auch früh gefunden. Schon zu der Zeit, als das Flimmerbild nur in den Wanderbuden der Messen residierte, konnte man hie und da Kinoplakate vor diesen Zelten sehen. Aber erst nachdem in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts dem Kino stehende Theater errichtet wurden, und grosse
Fabriken sich mit der Herstellung der Films befassten, wurde es ein ständiger Gebrauch, jedem Kinostück, das in die Welt ging, ein oder mehrere Plakate mitzugeben. Bald kam dann die mit einem Male um sich greifende Kinohochflut, die beinahe über Nacht an jeder Strassenecke ein Lichtbildtheater entstehen liess. Alle diese Theater schmückten ihre Fronten und Eingänge mit dem „Reklamematerial“, das ihnen von den Filmfabriken geliefert wurde und das farbenfreudige Malermeister aller Länder zusammengestrichen hatten. Die Zeit ist noch kaum vergangen, in der diese Geschmacklosigkeiten an den Eingängen der Lichtbildtheater und an den plakatbeklebten, fahrenden Reklamewagen jedes Strassenbild grausam verunstalteten.
Gewiss waren damals die kinematographischen Darbietungen selbst sentimental oder blutrünstig; aber ihre Plakate übertrafen noch die Roheit der Films, sodass gar manchmal das gebildete Publikum von der Betrachtung eines an und für sich sehenswerten Films (denn deren gibt es viele) durch seine Plakate abgehalten wurde.
Gegen diese verzeichneten, falschfarbigen und rohen Produkte, deren jedes einzelne zudem noch von einem ganz gewaltigen Umfang war, schritt schliesslich die Zensur ein, der man dabei Fehlgriffe nicht vorzuwerfen braucht, da eine Möglichkeit fehlzugreifen kaum bestand. In manchen Städten gingen die behördlichen Massnahmen so weit, dass sie den Kinos eine farbige Plakatierung überhaupt verboten, eine Vorschrift, die zu bedauern ist. Denn einmal schneidet sie einem ganz grossen und lebensfähigen Gebiet der Plakatmalerei jede Entwicklungsmöglichkeit ab; dann aber kann eine schöne farbige Akzentuierung mancher Häuserfronten oft zur erheiternden Belebung des Strassenbildes beitragen.
Die Zensur bewirkte im Laufe der Zeit eine gewisse Besserung des Kinoplakatwesens: die gröbsten inhaltlichen und malerischen Auswüchse verschwanden. An schlechten und unansehnlichen Kinoplakaten ist aber auch heute noch kein Mangel.
Vor allem jedoch widersetzte sich der Kino – von einzelnen Ausnahmen, die in der Menge völlig verschwinden, abgesehen – hartnäckig allen Einflüssen, die vom modernen, kunstgewerblichen Plakat ausgingen. Diese Erscheinung bedarf einer genaueren Untersuchung, da
sie vielleicht über das Wesen des modernen Plakates im allgemeinen, und die Eigenart des Kinoplakates im besonderen einigen Aufschluss gibt.
Wie schlecht die Filmverleiher, die die Films kaufen und die den Geschmack ihres Publikums genau kennen, auf moderne Plakate zu sprechen sind, hat der Verfasser dieses Artikels in eigener praktischer Tätigkeit bei der grössten deutschen Filmfabrik zu erfahren Gelegenheit gehabt. Die verschiedensten Versuche, von bewährten Künstlern entworfene, wirklich gute Plakate herauszugeben, scheiterten völlig; zahlreiche Käufer weigerten sich rundweg, solche Plakate anzunehmen. Grosse Mengen entrüsteter Briefe liefen in der Fabrik ein, die alle ungefähr diesen Inhalt hatten:
„Wir erhielten mit Erstaunen Ihre Plakate zu diesen und jenen Films. Kein Mensch kann uns einreden, dass diese Machwerke schön sein sollen. Es ist uns ganz unmöglich, mit einem derartigen Reklamematerial die Films weiter zu verwerten; sie sind so für uns wertlos. Wir fordern Sie auf, uns innerhalb 14 Tagen andere Plakate zugehen zu lassen, sonst sehen wir uns genötigt, Sie auf Schadenersatz zu verklagen.“ Mehrere Schreiber erhielten darauf einen ausführlichen, erklärenden Bescheid, warum diese Plakate besser seien als andere und dass sie ein sehr bewährter Berliner Reklamekünstler entworfen habe. Darauf entgegnete zum Beispiel ein Kunde im Kinoton: „Es ist uns ganz gleichgültig, wer die Plakate gemalt hat. Unseretwegen kann es sogar ein Professor gewesen sein. Nochmal: Wir verbitten uns für die Zukunft solche Plakate.“ Nach diesem Ergebnis, das nur Geldverlust und Undank gebracht hatte, musste man notgedrungen zu den Plakaten alten Stiles „in englischer Manier“ (die oft verlangt wurde) zurückkehren und konnte sich nur darauf beschränken, hier möglichst gute Arbeiten auszugeben. Denn es kann mit Vernunft keinem Kaufmann zugemutet werden, dass er durch seine Reklame seinem geschäftlichen Erfolg entgegenarbeitet. Wendet man dagegen ein, dass man das Kinopublikum an die modernen Plakate gewöhnen, sie zu deren Verständnis gewissermassen erziehen solle, so liegt in dieser Einwendung in erster Linie ein Vorwurf gegen das moderne Plakat, nicht gegen das Publikum, ein Vorwurf, dessen Erkenntnis für den zukünftigen Weg des modernen Plakatwesens lehrreich sein kann und dem man sich nicht verschliessen darf,
wenn anders man auf eine gedeihliche Entwicklung der Plakatkunst, in der gegenwärtig ohne Zweifel ein Stillstand eingetreten ist, hinarbeiten will.
An den Schicksalen des Kinoplakates, das auf das Interesse der ganz grossen Masse des Volkes angewiesen ist, lässt sich deutlich erkennen, dass das moderne Kunstgewerbeplakat der notwendigen Popularität entbehrt. Es wird – immer im allgemeinen gesprochen – im Volke unbewusst als zu pretentiös, zu anspruchsvoll empfunden. Ganz gewiss muss aber a priori im Wesen des Plakates als erste und wichtigste Eigenschaft eine ganz breite Popularität liegen, die dem Einfühlungsvermögen und dem Verständnis des Volkes auch nicht eine einzige Schranke entgegensetzt. Wäre dies anders, dann entbehrte das Plakat seiner bis zum letzten Mann wirkenden Werbekraft, die doch fast jeder (von Ausnahmen abgesehen), der etwas anzupreisen hat, verlangt.
Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, als ob die Plakate, die auf das Interesse der grossen Menge ausgehen, irgendwie anders, vielleicht roher, „kitschiger“ sein müssten, als solche, die für das gebildetere Publikum bestimmt sind, derart, dass man etwa für eine 2 Pfg. Zigarette ein robustes, für eine 5 Pfg. Zigarette ein absichtlich geschmackvolles Plakat anwendete. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, dass das Volk den Wert einer wirklich wertvollen Sache nicht wenigstens unbewusst fühlt. Die Geschichte aller Künste liefert genug Beispiele dafür, dass irgend ein gutes, absolut wesensechtes Geistesprodukt vom ersten Augenblick an unter der Menge subtiler Feinheiten und differenzierter Nuancen, die zuerst und zum mindesten beim ungelehrten Volke unverstanden bleiben, eine Wirkungskraft in sich trägt, die in die Breite geht und die eine mehr oder minder grosse Popularität von allem Anfang an erzielt. Verhält sich das so, wie ganz anders muss vom ersten Augenblick an die Wirkungskraft jedes Plakates sein, das seiner Natur nach nichts anderes als Popularität wollen kann, wenn es – und darauf kommt es einzig an – wirklich wesensecht, wirklich gut ist. Ein gutes Plakat muss immer populär sein. Eine Erziehung des Volkes zum Verständnis des Plakates kann und braucht es nicht zu geben; denn ein Plakat, das eine Exegese verlangt, mag ein Kunstwerk sein, aber es ist gewiss kein
Plakat; wobei man sidn darüber einig sein muss, dass die Ausdrucksmöglichkeiten des Plakates – am Masstab grosser Kunst gemessen – verhältnismässig gering sind. Betrachtet man von hier aus – immer als bezeichnendes Beispiel – die Schicksale des Kinoplakates, so bleibt allein der Schluss möglich, dass den modernen, kunstgewerblichen Plakaten irgend ein Fehler anhaftet, der sie hindert, ihre Aufgabe voll und ganz zu erfüllen Diesen Mangel gilt es zu erkennen und klar herauszustellen.
Die moderne Plakatmalerei geht mit allzuviel Absicht und allzuviel Kraftaufwand auf die Schaffung rein formaler Werte aus. Sie bestrebt nichts anderes als ein mit malerischem Raffinement gewolltes geschmackvolles Aussehen. Diese einseitige Absicht führt schliesslich zu einem unangenehmen Geschmäcklertum und zu einer alle Plakatarten verwischenden Gleich- und Einförmigkeit. Ein fast überall festzustellender Mangel an Phantasie, der heute besonders zu Tage tritt, nachdem das „sachliche Plakat“ erschöpft ist und seinem Ende zugeht, verstärkt diesen Eindruck, ohne dass aber deshalb die Prätention, die aus einer Ueberschätzung des rein Formalen und des rein Geschmacklichen herrührt, abgenommen hätte.
Die Folge davon ist, dass auf der anderen Seite dem Plakate nicht gegeben wird, was des Plakates ist. Es gibt heute eine Art allgemeinen Plakatschemas, dergestalt, dass eine Konzertankündigung bald aussieht, wie ein Zigarettenplakat. Die einseitige Hinarbeit lediglich auf das Geschmackvolle nimmt den einzelnen Arten ihre feinen und wertvollen Stilnuancen. Das dieses Ergebnis überhaupt möglich war, liegt eben an der Feinheit der Unterschiede, die sich zur Not eine Zeit lang übersehen liess. Verlangt aber irgend eine menschliche Tätigkeit, die ein ganz ausgeprägtes inneres Wesen besitzt, die voll ist eines kraftvollen Eigenlebens, nach einer Plakatreklame, die der individuellen, eigenmächtigen Art unbedingt in einer entsprechenden, individuellen Plakatgattung gerecht werden muss, dann versagt die moderne Plakatmalerei, da sie ihr Schema nicht verlassen oder nicht einmal modifizieren kann.
Und hierfür ist das Kinoplakat ein schlagender Beweis. Die lebenden Bilder des Kinematographen besitzen eine von allen anderen menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten scharf getrennte Eigenart. Das Tempo, die Konzentriertheit, die bis zur Groteske gesteigerte Intensität der Filmhandlung, die das Wesen und den Erfolg des Kinos ausmachen, müssen auch im Kinoplakat zum Ausdruck kommen. Im Plakat muss etwas von der Erregtheit, dem Abenteuerlichen und Phantastischen, das dem Kino eigentümlich ist, nachzittern, eine Aufgabe, die dem Plakat besonders gemäss sein muss. Es kann bald vor Tollheit überschäumen; dann wieder in mystischen Farben geheimnisvolle, unheimliche Vorgänge dartun. Immer muss es heiss, voller Glut sein, immer im inneren Zusammenhang mit dem zu Grunde liegenden Film.
Es lässt sich nicht leugnen, dass sehr viele der Plakate, die wir als absolut kitschig und abgeschmackt empfinden, und die es mit ihrer falschen Zeichnung und den unmöglichen Farben ganz gewiss auch sind, viel von diesem Kinotempo besitzen. Es gibt englische Plakate, die in ihrer Wirkung geradezu packend sind. So sah man vor einiger Zeit ein Riesenplakat, das zeigte, wie Verbrecher, auf einem Wagen stehend, im Galopp durch die Landschaft fahren. Hinten am Wagen hängt, an einem Strick angebunden, ein Mann, der über Stock und Stein nachgeschleift
wird und der, die Scheide des Messers zwischen den Zähnen, gerade dabei ist, das Seil, das ihn festhält zu durchschneiden. Gewiss kein sehr sympathischer Vorwurf, und zudem war es ziemlirh roh hingemalt. Aber wie lebte es in diesem Plakat. Man fühlte das Tempo des sausenden Wagens, man empfand aufregend die Landschaft mit den gebogenen Bäumen und dem wild aufwirbelnden Staub, und man war in Spannung über den Rettungsversuch des gefangenen Mannes. Es war Kinotempo in dem Plakat; obwohl es eine Menge zeichnerischer Ungeschicklichkeiten aufwies. Man stelle sich vor, wie diese Szene auf einem nach moderner, deutscher Manier gemalten Plakat aussehen würde: sehr schön, sehr geschmackvoll, aber eiskalt, gefroren, erstarrt, ohne packende Intensität, ohne Abenteurertum. Der Reiz der aufregenden Szene wäre völlig dahin, man könnte in ihr nur mehr eine lächerliche Unwahrscheinlichkeit sehen. Mit dem Kino hätte dieses Plakat nichts zu tun.
Dies ist es, was die deutsche Plakaterei lernen muss: dass sie sich in Zusammenhang begibt mit dem Wesen des Dinges, das es anzupreisen gilt. Denn sie muss sich davor hüten, in einem starren, schematischen Geschmäcklertum stehen zu bleiben. Die Langeweile ist die schlimmste Wirkung, die ein Plakat erzielen kann. Dass das geschmackvolle Aussehen niemals fehlen darf, versteht sich von selbst. Aber es muss, statt wie heute einzig gewollte, pretentiöse Absicht zu sein, zur unaufdringlichen Selbstverständlichkeit werden.
Was uns aber dabei not tut (es sei einmal ausgesprochen) sind Plakatkünstler, die wieder zeichnen können, besser als viele der heutigen, die oft nichts anderes sind, als geschmackvolle Arrangeure aparter Farbenflecke. Denn man wird, wenn nicht alles trügt,
zukünftig von einer allzu übertriebenen Flächigkeit der Plakate abkommen, und dann werden die Maler sich vor die Notwendigkeit gestellt sehen, Menschen und Gegenstände exakt durchzeichnen zu müssen. Vielleicht werden sie dann auch den Anforderungen, die das Kinoplakat als besondere Art stellt, völlig Genüge tun. Denn das Kinoplakat verlangt eine noch genauere Detailierung der Zeichnung als andere Plakate. Seiner räumlichen Zweckbestimmung nach muss es zwar immer als Aussenplakat dienen. Seine Aufgabe aber ist nicht so sehr, den Vorbeieilenden grell anzurufen und seine flüchtige Aufmerksamkeit zu verlangen, sondern mehr den zwischen den einzelnen Kinotheatern auswählenden Besucher zum Eintritt zu verleiten. Und dasjenige Plakat wird diese Aufgabe am besten erfüllen, das seinem aufmerksamen Betrachter eine lockende Filmszene ausführlich und vielversprechend vor Augen setzt.
Sieht man sich in unseren Tagen nach dem Stand der Kinoplakaterei um, so begegnet einem fast nur der schlimme Schund, über den man nicht reden kann und braucht. Und nur ganz selten findet man ein qualitätvolles Plakat von einem unserer bekannten Reklamekünstler entworfen. Am häufigsten arbeitet für den Kino Julius Klinger, der auch als Erster das Kinoplakat gut zu gestalten versuchte. An unseren Abbildungen (die keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen, und die nur in zufälliger Auswahl zu beschaffen waren) lässt sich erkennen, dass die Klingerschen Produkte die typischen Eigenschaften des guten, deutschen Kinoplakates besitzen. Sie sind alle mit einer unübertrefflichen Sicherheit der Zeichnung hingesetzt. Die Figuren stehen klar, gewichtig und in einer abgewogenen Komposition im Raum. Aber sie sind alle starr, gefroren, ohne Leben. In all diesen Plakaten ist nichts vom tollen Tempo des Kinos zu spüren, nichts von seinem geheimnisvollen Auf und Ab. Selbst eine so dankbare Szene, wie sie im Taucher-
plakat (Abb. 1) gegeben wird: ein Kampf zweier Taucher auf dem Grunde des Meeres mit einem ungeheuren Polypen, wird kühl, ohne Aufregung, fast elegant geschildert. Man freut sich über den Aufbau des Bildes, über den wirkungsvollen Kontrast von Hell und Dunkel. Aber der Kampf der beiden Menschen auf Leben und Tod lässt den Beschauer unberührt, das Untier und der dunkle Boden des Meeres haben nichts Unheimliches, düster Drohendes an sich – es fehlt der Geist des Kinos. Das Gleiche muss von den anderen abgebildeten Klingerplakaten gesagt werden, die im Gegensatz zum Taucherplakat humoristische, possenhafte Stoffe illustrieren. Und gerade auf diesem Gebiet kommen sich Kino und Plakat am nächsten. Denn das Spasshafte oder besser das eigentlich Possenhafte ist mehr physisch-konkreter Natur und bietet so dem Film wie dem Plakat überaus geeignete, wesensentsprechende und daher wirkungsvolle Vorwürfe. Hier kann der Plakatmaler alle Tollheit aus seinen Figuren herausholen. Aber die Klingerschen Possenspieler sind gar nicht übermütig, nur manchmal witzig. Sie sind – wenn dieser Vergleich erlaubt ist – wie ernsthafte Menschen auf einem Maskenball, die einmal im Jahr ganz toll sein möchten, die krampfhaft ihr Gesicht komisch verziehen, aber aus ihrer Alltagslaune nicht herauskommen. „In flagranti ertappt“ (Abb. 2): zwei Menschen schauen grinsend ins Weite und sind mit Tinte bespritzt. Mit ruhigem Stift sind die Umrisse und die Schatten gesetzt; die überschäumende Laune aber kommt zu kurz. „Die Weinprobe“ (Abb. 3); ein vortreffliches Plakat, aber, wie die anderen, zu still und reserviert.
Was ihnen mangelt, besitzen in reichem Masse die köstlichen Blätter, die in Frankreich A. Barrère für humoristische Films malt, und die wirklich den Geist des Kinos in sich tragen. Aus dem einen dieser Plakate, (Abb. 6) das einzig zu beschaffen war, und das nicht einmal eines seiner besten ist, spricht es von übermütiger Lustigkeit. In der hageren Gestalt des Filmkomikers Prince und in seinem lachenden Gesicht, in dem Kontrast zu seinem verblüfften Gegenspieler liegt eine unwiderstehliche Komik. Und zwischen den Männern schwebt Sie, la femme, die alle Verwicklungen ver-
anlasst hat, süss lächelnd. Schon im erregten Rhythmus der Linien, der noch mehr in Barrères besten Plakaten zur Geltung kommt, liegt kinogemässe Behendigkeit. So oft er schon die komischen Figuren des Max Linder und des Prince mit unbedingter Porträtähnlichkeit auf seinen Blättern gegeben hat, immer ist Leben in ihnen und immer ein neues Leben.
Schwierigkeiten verursacht bei Kinoplakaten regelmässig die kompositionsgerechte Anordnung der Schrift. Die Internationalität des Filmwesens verlangt, dass die Plakate mühelos in allen Sprachen der Erde sollen erscheinen können. Bei den deutschen Plakaten fügt der Maler in der Regel trotzdem die Schrift nach seinem Entwurf ein, meistens in blockförmigem Zusammenschluss, so dass der fremdsprachliche Text ohne weiteres darübergeklebt werden kann. Dagegen lassen Barrère und andere fremdländische Künstler auf ihren Plakaten einen freien Raum, auf den die verschiedensprachigen Texte aufgedruckt werden. So kommt es, dass auf diesen Plakaten die Schrift oft in sehr ungünstiger Anordnung erscheint. Trotzdem: Barrère und sein begabter Nachahmer de Losques zeigen den Weg, den die Plakatmalerei für komische Films zu gehen hat.
Den Vorwurf für ihr Plakat können die Künstler auf zweierlei Weise aus dem zu Grunde liegenden Film konzipieren. Entweder übernehmen sie eine Szene, die sich im Verlauf des Films abspielt und die den Effekt der Handlung enthält, um dieses Szenenbild auf das Plakat zu übertragen, oder sie komponieren ein absolut neues Bild, das die einzelnen Elemente des Films irgendwie vereinigt oder das die Grundstimmung der Handlung bezeichnend und prägnant kund tut. Diese Art verlangt naturgemäss Phantasie und Witz des Malers.
Ueber diese Eigenschaften verfügt der vielgewandte Berliner Karikaturist Paul Leni. Er hat immer einen Einfall, der das Wesen einer Sache schlagend erleuchtet. So malt er zu einem Film, in dem die Kinoschauspielerin Hanni Weisse als „Berliner Range“ tollt, deren Kopf gleichsam auf eine Häuserwand (Abb. 8), wie Gassenkinder es zu tun pflegen. Dazu links in die Ecke ein hingekritzeltes Männchen und darunter den Text in peinlich genauer Schulschrift. So schafft er durch den scharf hervortretenden Kopf ein wirkungsvolles Plakat, das besonders an der Anschlagsäule, für die es bestimmt ist, auffällt. Leni hat auch für ernste Kinostücke Plakate entworfen. Voll starker Stimmung ist das Blatt zum Film „Die Wasser schweigen“ (Abb. 9) und schön in der kontrastreichen Komposition. Aber es ist ein gefährliches Wagnis, ein Kinoplakat zu entwerfen, auf dem keine Menschen dargestellt sind. So muss diesem Plakat der rasche Pulsschlag des Kinolebens fehlen, wenn es auch
als ein origineller, bewusster Versuch zur Schaffung Spannung, eines kinogemässen Dramenplakates zu betrachten ist. Für die Films der bekannten Asta Nielsen wusste vor einiger Zeit Ernst Deutsch einige Plakate mit Geschick und Raffinement zu entwerfen. Die Blätter zum „Tod in Sevilla“ (Abb. 10) und zu „Komödianten“ (Abb. 11) wissen am meisten von den Anforderungen eines Kinoplakates. Bei Deutschs späteren Plakaten ist von diesem Wissen nichts mehr zu merken. Ganz wenige Kinoplakate, und nur für die Films, die Max Reinhardt inzenierte, gab Ernst Stern heraus. Sie sind ganz und gar aus dem Geist der Films heraus geboren, für die sie werben sollen. Und so wenig die Reinhardtschen Films richtige Kinostücke sind, ebensowenig sind Sterns Plakate typische Kinoplakate. Aber sein Blatt zu Vollmöllers spukhafter, phantastischer Pantomime „Venetianische Nacht“ (Abb. 14) ist voll einer traumhaft schönen, geheimnisvoll beschwingten Atmosphäre.
Die wertvollsten Kinoplakate für ernste Films hat bisher wohl Ludwig Kainer geschaffen. Sein grosses Können erlaubt ihm mit geringen Mitteln und ohne Kraftaufwand alle Regungen der Seele im Antlitz seiner Menschen kundzutun und die geheimnisvolle Spannung, die über abenteuerlichen Filmsituationen schwebt, zum Ausdruck zu bringen. Ist auch sein Piakat zu dem Asta Nielsen-Film „Engelein“ (Abb. 15) bei weitem nicht sein bestes Stück, so ist doch auch dieses Blatt wirklich von Kinos Gnaden. Die Erregtheit und die Intensität seines Striches, das Feingefühl in der Wahl und Zusammensetzung der Farben, dazu sein sicherer Instinkt, der ihm unbewusst die Ahnung des Kinostils gibt, lassen auf Ludwig Kainer als auf den Wegweiser für die Zukunft des ernsten Filmplakates hoffen.
Die zukünftigen Schicksale des Kinoplakates sind unlöslich mit den Geschicken verbunden, die die ganze Kinematographie erleiden wird. Hier wie dort ist ein Stillstand und eine Art von Abschluss eingetreten. Wie die Entwicklung weitergehen wird, entzieht sich menschlicher Voraussicht. Die Hoffnung aber ist berechtigt, dass nach diesen gewaltigen und schweren Wettern, die gegenwärtig über die Welt ziehen, ein grosses Aufatmen durch die Menschheit gehen und dass eine Katharsis erfolgen wird, die den Kulturdingen, um die es uns zu tun ist, neue Lebenskraft zu einer kraftvollen und gedeihlichen Entwicklung verleihen soll. Dann wird es auch um die Zukunft des Kinos und seiner Plakate gut bestellt sein.
Dr. Herbert Tannenbaum, Mannheim
FPA 19.01.2016